Beschaffungsexperte Frank Sundermann, geschäftsführender Gesellschafter der Durch Denken Vorne Consult, erklärt im Inside-Business-Interview, wie ChatGPT in der Beschaffung bereits heute unterstützend zur Seite steht und welche Anwendungsfälle er für Ende dieses Jahrzehnts erwartet. 

Herr Sundermann, in welchen Bereichen der Beschaffung kann die aktuelle Version von ChatGPT schon heute hilfreich sein?

ChatGPT hat sich seit dem Launch für die Öffentlichkeit Ende 2022 nochmals deutlich weiterentwickelt. Die vierte und derzeit aktuelle Version bietet zahlreiche denkbare Anwendungsfälle für den Einkauf. Ganz allgemein kann der Chatbot Einkäufern helfen, Wissenslücken zu schließen, beispielsweise bei der Beschäftigung mit neuen Warengruppen, bei technischen Fragen oder bei der Erstellung eines Einkaufhandbuchs. Das ist gerade für Quereinsteiger relevant, von denen im Einkauf aufgrund des Fachkräftemangels in Zukunft immer mehr arbeiten werden. Und meiner Erfahrung nach bieten nur wenige Unternehmen qualifizierende Schulungsprogramme an, die alle Fragen vollumfänglich klären.

Wenn ich eine Frage zu einem Produkt habe, kann ich die Antwort doch auch googeln. Wo liegen die Vorteile von ChatGPT?

ChatGPT liefert eindeutigere Antworten und mittlerweile ist ChatGPT schon so ausgereift, dass die Antworten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch sinnvoll und richtig sind. Google bietet hingegen verschiedene Links an, die oft sogar verschiedene Antworten bereithalten. Dieses Durchforsten dauert einerseits länger, andererseits muss der Suchende sich entscheiden, welcher Quelle er vertrauen will.

Bei welchen operativen Aufgaben im Einkauf lässt sich ChatGPT konkret einsetzen?

Beispielsweise bei der Formulierung von Lieferantenanschreiben. Wenn ich den Chatbot mit einigen Daten wie Lieferqualität und Liefertreue füttere, erstellt das Programm innerhalb von Sekunden ein Dokument, das ich im Nachhinein vielleicht nur leicht anpassen muss. Und dieses Anschreiben übersetzt ChatGPT auch noch in hoher Qualität in alle gängigen Sprachen. Auf diese Weise versteht ein internationaler Lieferant oft eher, was der Einkäufer meint, als wenn beide in ihrem Schulenglisch kommunizieren. Sogar fremdsprachige Verträge können von ChatGPT auf Risiken geprüft oder aufgesetzt werden.

Darüber hinaus kann die KI dabei helfen, eine Verhandlungstaktik zu erstellen, wenn sie zuvor mit wesentlichen Parametern über den Lieferanten gefüttert wurde. Natürlich spielt der Faktor Mensch hier immer noch die entscheidende Rolle, aber ChatGPT liefert durchaus Denkanstöße und Argumente, dank derer die Verhandlung erfolgreicher verlaufen kann.
 


Steht denn der Aufwand, die KI mit den relevanten Informationen zum Lieferanten zu versorgen, im vernünftigen Verhältnis zum Ertrag?

Um diesen Aufwand so gering wie möglich zu halten, haben wir eigene Prompt-Generatoren geschaffen, die die notwendigen Eingaben auf das Wesentlich beschränken und daraus einen ChatGPT-fähigen Text generieren.

Wie sieht es mit der Lieferantenkommunikation aus? Kann ChatGPT hier bessere Qualität bieten als die herkömmlichen Chatbots, die in der Kundenkommunikation bisher zum Einsatz kommen?

Vermutlich schon, da ChatGPT einfach auf ein viel umfassenderes Wissen zurückgreifen kann als firmeninterne Bots. Allerdings wird es in diesem Bereich immer Schwächen geben, da die KI zum einen momentan noch nicht auf tagesaktuelle Informationen zurückgreifen kann und natürlich auch nicht über unternehmensspezifisches Wissen verfügt. 

Können Unternehmen ChatGPT selbst trainieren, sodass quasi eine eigene Version entsteht, die alles über den eigenen Betrieb weiß?

Ja, das funktioniert bereits. Unternehmen können das Know-how und die Algorithmen von ChatGPT in einer eigenen Umgebung nutzen. Das firmeninterne Wissen wird dann natürlich nicht in der allgemeinen Version des Bots zur Verfügung stehen.

Welche Probleme oder Risiken können bei der Nutzung von ChatGPT auftreten?

Es tauchen ja immer wieder Fragen zum Thema Urheberrecht auf, doch die spielen für die meisten Anwendungsszenarien im Einkauf keine Rolle. Und natürlich besteht die Gefahr, dass ChatGPT falsche Antworten oder schlechte Empfehlungen gibt. Doch diese Gefahr besteht bei menschlichen Ratschlägen genauso.

Künstliche Intelligenzen verbessern sich derzeit rasend schnell. Welche Rolle könnte ChatGPT in fünf bis zehn Jahren im Einkauf einnehmen?

Es werden sicherlich Dinge möglich sein, die wir jetzt alle noch nicht vor Augen haben – wie bei so vielen technischen Neuentwicklungen. Bei einer Sache bin ich mir allerdings recht sicher, die nicht nur den Einkauf betrifft: Die KI wird bald in der Lage sein, virtuelle Meetings zusammenzufassen oder den aktuellen Stand der Diskussion wiederzugeben. Wer also beispielsweise nicht pünktlich teilnehmen kann, bekommt das bisher Gesagte bei Microsoft Teams oder anderswo übersichtlich präsentiert. Darüber hinaus traue ich ChatGPT zu, in nicht allzu ferner Zukunft komplette Warengruppenstrategien erstellen zu können, sofern der Bot zuvor mit firmeninternem Wissen versorgt wurde.

Sollten sich gerade operative Einkäufer ob der Entwicklungen Sorgen um ihren Job machen? Werden sie bald durch eine KI ersetzt?

Natürlich werden immer mehr Standardaufgaben künftig automatisiert ablaufen, Robotic Process Automation ist hier das Stichwort. Aber das ist aufgrund der demografischen Entwicklung auch zwingend notwendig, da sonst viele Unternehmen ihre Einkaufsabteilungen gar nicht mehr adäquat besetzen können – vor allem jene, die ihren Sitz nicht in Metropolregionen haben.

Wir sprechen hier nur über ChatGPT – doch daneben gibt es ja noch weitere KI-Chatbots, die teilweise sogar weitergehende Funktionen bieten.

Ich glaube, dass ChatGPT im Bereich der Chatbots das Maß der Dinge bleiben wird. Entwicklungen aus anderen Bereichen zeigen, dass oft der erste Anbieter, der richtig groß herauskommt, auch Marktführer bleibt, siehe Spotify oder Amazon.