Wie zuvor in England wurde die Textilindustrie in der Region um Chemnitz seinerzeit zum Motor der Industrialisierung. 1881 erfand in Plauen – damals Zentrum der deutschen Spitzen und Stickereiindustrie – Anton Falke die maschinengestickte Tüllspitze. Sie wurde unter dem Markenname „Plauener Spitze“ („Plauen Lace“) weltbekannt. In und um das „sächsische Manchester“ entstanden Unternehmen mit Weltruf, wie die Sächsische Maschinenfabrik, die Wanderer-Werke oder, im 20. Jahrhundert, die Auto Union, als Vorgänger der heutigen Audi AG. Nach einem gewaltigen Transformationsprozess in den 1990er-Jahren ist die Industrieregion Chemnitz heute wieder ein florierender Wirtschaftsraum. Die Arbeitslosenquote hat sich in den vergangenen zehn Jahren auf 7 Prozent halbiert, rund ein Viertel der Beschäftigten sind immer noch in der Industrie tätig.
 

Traditionell, aber innovativ

Ganz auf Tradition setzt man in der ältesten Mundharmonikafabrik der Welt. Christian August Seydel gründete bereits 1847 – also vor fast 170 Jahren – in Klingenthal die Firma C. A. Seydel Söhne. Bemerkenswert ist, dass alle Instrumente in Handarbeit und ausschließlich in Klingenthal hergestellt werden – das Qualitätsprädikat „Made in Germany“ stimmt also in jedem Fall. Nach der Wende wurde das Unternehmen 1991 reprivatisiert und 2004, nach einer Durststrecke, vom Investor Niama Media übernommen.

Bei Seydel ist man darauf bedacht, hochwertige Materialien zu verwenden, damit die Instrumente sich gut bedienen lassen, große Klangfülle besitzen und lange halten. Weltmarktführer zeichnet aus, dass sie trotz traditioneller Techniken besonders innovativ sind. Für Seydel gilt: Neu und einzigartig sind deren Edelstahl-Stimmzungen. Sie werden von vielen Spielern geschätzt und haben der Firma weltweit zu einem guten Ruf verholfen. Diese und andere Neuentwicklungen zeigen, dass Traditionsbewusstsein keinen Stillstand bedeuten muss, sondern dass, dank des lange gewachsenen Know-hows, auch innovative Instrumente für das 21. Jahrhundert gebaut werden. Das Sortiment umfasst Blues-Mundharmonikas sowie chromatische und Tremolo Mundharmonikas. Zu den Kunden zählen Vertreter der internationalen Blues- und Folkszene ebenso wie Hobbymusiker.

 

 

Auf Knopfdruck dunkel

Aus Plauen kommt mittlerweile „Industrie 4.0“ – beispielsweise mit einem Produkt, das im Prinzip wie eine selbsttönende Brille funktioniert: Die verdunkelt sich, wenn Sonne auf die Gläser scheint. Die Gläser der Firma E-Control sind allerdings viel größer – dieses Sonnenschutzglas wird für großflächige Fassaden, Glasdächer und Wintergärten gemacht. Und im Gegensatz zur Brille lässt sich der Verdunklungsgrad dimmen. Fast 20 Jahre lang wurde an dem Produkt herumgetüftelt, bis das Unternehmen das heutige Know-how besaß. Jetzt kann der Kunde auf Knopfdruck einstellen, wie viel Sonneneinstrahlung durch die Scheibe hereingelassen werden soll. Möglich sind zwischen 10 und 55 Prozent. Das Besondere ist, dass die innenliegende Beschichtung des Glases sich dabei blau färbt. Und der Vorteil: Markisen oder Jalousien werden überflüssig. Bei nur 10 Prozent Sonneneinstrahlung färbt sich die Scheibe maximal ein – dennoch hat man freie Sicht nach draußen und guten Blendschutz. Eine eingebaute Schnittstelle ermöglicht eine automatische Steuerung: Überschreitet die Sonnenstrahlung den vorher eingestellten Grenzwert, dimmt die Elektronik die Sonnendurchlässigkeit des Glases. Im Winter lässt man, umgekehrt, entsprechend viel Sonne herein und spart so Heizkosten.

Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Die 2006 gegründete Firma errichtete bereits drei Jahre später einen neuen Firmensitz und Produktionsstandort in Plauen. „Wir besetzen zunächst nur eine Nische“, sagt E-Control- Geschäftsführer Tobias John, „aber mittelfristig sind wir das ‚intelligente Glas für das Gebäude 4.0‘. Was vor 20 Jahren noch eine Vision war, haben wir als einziger europäischer Hersteller in ein tolles Produkt umgesetzt. Im Wettbewerb zu anderen Anbietern aus USA sind wir hier im Vogtland mitten in Europa. Als Hersteller vor Ort können wir den Markt in ganz Europa effektiv abdecken.“

Blaue Fenster aus dem Vogtland haben bereits im Berliner Bundespräsidialamt Einzug gehalten. Und inzwischen haben die 42 Mitarbeiter ein weiteres Prestigeprojekt ausgerüstet: den von Stararchitekt Daniel Libeskind entworfenen Neubau des Zentralgebäudes der Leuphana-Universität in Lüneburg. Dessen futuristische Anmutung wird durch die blauen Fenster noch zusätzlich unterstützt.

„Das ist ein echtes Leuchtturmprojekt“ , schwärmt Tobias John. „Ein Referenzobjekt, das sehr wertvoll für uns ist.“ Das hat sich schon am Produktionsstandort erwiesen – der ist mittlerweile ein Anlaufpunkt für Architekten, Bauherren und Besucher aus der ganzen Welt geworden.

3 Fragen an …

Christoph Neuberg, Geschäftsführer Industrie | Außenwirtschaft der IHK Chemnitz

 Was unterscheidet Chemnitz von starken Regionen wie Leipzig und Dresden?

 Die Region Chemnitz ist das industrielle Herz Sachsens. 41 Prozent der industriellen Wertschöpfung Sachsens erfolgt zwischen Plauen und Döbeln. Die Basis bilden die traditionellen Schlüsselbranchen Automobil- und Maschinenbau. Hier wurde 2016 mehr als ein Drittel der Umsätze der ostdeutschen Kraftfahrzeugindustrie erwirtschaftet. Da kommt Leipzig und Dresden bei Weitem nicht ran! Zudem spiegelt sich die historisch gewachsene Industriekultur auch in der Hochschul- und Forschungslandschaft mit ihrer technisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung wider. Kritisch ist im Vergleich zu Leipzig und Dresden die Außenwahrnehmung zu sehen: Das Bild der Region ist, zu Unrecht, leider noch immer von den Arbeitsplatzverlusten und Abwanderungen der 1990er-Jahre geprägt.

Wie fördern Sie gezielt Unternehmen in Ihrer Region?

Wir sind Garant für die berufliche Bildung. Wir sind etwa bei Rechtsauskünften behilflich, beraten bei Energiethemen und unterstützen bei Fördermitteln, bei der Fachkräftesicherung und bei der Internationalisierung. Darüber hinaus setzt sich die IHK für eine einheitliche Identitätsstiftung und Vermarktung der Region Chemnitz ein.

Was wünschen Sie sich von der neuen Regierung? Welche Probleme sollten in den kommenden Jahren angepackt werden?

Das Fachkräftepotenzial nimmt spürbar ab. Die Stärkung der dualen Berufsausbildung auf Bundesebene sowie erleichterte Bedingungen für die Zuwanderung ausländischer Fach- und Spitzenkräfte sind deshalb weiter zu forcieren. Mit einer „Industrie 4.0“ und der weiteren Digitalisierung der Arbeitswelt entstehen völlig neue Anforderungen. Strategien für einen bedarfsgerechten Breitbandausbau gehören deshalb weit oben auf die politische Agenda. Bürokratische Hemmnisse sind gerade im Hinblick auf die spezifischen Interessen kleiner und mittlerer Unternehmen weiter abzubauen. Nur „kosmetische“ Erleichterungen genügen hier zukünftig nicht mehr.