Warum ist eine erfolgreiche digitale Transformation so eng mit der Mitarbeiterführung verknüpft? Geht es nicht primär um die Einführung neuer Technologie?

Das Projekt Digitalisierung umfasst weit mehr als bloß die digitale Verarbeitung von Daten. Das wäre zu kurz gegriffen. Vielmehr wird sich im Kontext der Digitalisierung für Unternehmen etwas ganz grundlegend verändern. Die große Herausforderung ist viel weniger die technologische als die menschliche Komponente. Ziel einer erfolgreichen Digitalisierung muss es sein, reagibel auf die sich schnell wandelnden Marktbedingungen reagieren zu können. Nur so können neue Geschäftsmodelle und -ideen umgesetzt werden. Das alles ist nur möglich, wenn Mitarbeiter in Unternehmen so eingebunden sind, dass sie sich aktiv in laufende Prozesse einbringen können.

Sie haben in Ihrem Buch Digitalisieren mit Hirn zahlreiche erfolgreiche Firmen unterschiedlicher Größe untersucht, denen es gelingt, ihre Mitarbeiter auf dem Weg zur Digitalisierung wirklich mitzunehmen. Was ist deren Erfolgsrezept?

Der Kern des Erfolgs dieser Unternehmen liegt eben darin, dass sie die digitale Transformation als etwas Größeres verstanden haben. Insbesondere bezüglich der Mitarbeiterführung. Dabei sind vier wesentliche Punkte besonders hervorzuheben:
 

  1. Offener Dialog,
  2. Partizipation,
  3. Wertschätzung und
  4. Weiterqualifizierung.


So haben viele der in unserem Buch beschriebenen Unternehmen den offenen Dialog mit ihren Mitarbeitern gesucht und in den Vordergrund gestellt. Dabei wurde klar kommuniziert, wohin die Reise gehen soll – und auch Unsicherheiten wurden nicht ausgespart.

Errungenschaften durch Digitalisierungsmaßnahmen wiederum dürfen durchaus auch mit den Mitarbeitern geteilt werden. Beispielsweise in Form von Weiterbildungsmaßnahmen, oder auch mal als Freistunden. So können Mitarbeiter mit am schnellsten für die Digitalisierung begeistert werden. Schließlich profitieren sie am Ende selbst von den umgesetzten Maßnahmen.

Partizipation und Wertschätzung sind generell wichtige Stichworte in diesem Zusammenhang. Dabei geht es nicht nur darum, die Angestellten am Unternehmenserfolg teilhaben zu lassen. Es ist gleichermaßen wichtig, allen Mitarbeitern Gestaltungsspielräume zu lassen. So kann sich aus der Idee eines Auszubildenden plötzlich ein ganz neues Geschäftsmodell ergeben. So geschehen etwa bei der Otto Group. Mit klassischen Strukturen wäre das schlicht nicht möglich gewesen.

In Bereichen, in denen im Zuge der Digitalisierung tatsächlich Stellen weggefallen sind, haben die erfolgreichen Unternehmen den betroffenen Mitarbeitern durch Qualifizierungsmaßnahmen eine neue Perspektive eröffnet.
 

Quotation mark
„Unsicherheiten und Ängste lassen sich nicht so einfach bei Seite wischen. Umso wichtiger ist es, dass diese von Führungskräften offen angesprochen werden. Dabei ist es wichtig, den Mitarbeitern zugleich einen Weg aufzuzeigen, wie ihre Zukunft im Unternehmen aussehen kann.“

Henrik Kehren


Viele Mitarbeiter mit klassischen Arbeiter-Jobs sehen ihre Arbeitsplätze durch Digitalisierung und Robotik bedroht. Wie begegnet man als Führungskraft entsprechenden Ängsten und Abneigungen?

Unsicherheiten und Ängste lassen sich nicht so einfach bei Seite wischen. Umso wichtiger ist es, dass diese von Führungskräften offen angesprochen werden. Dabei ist es wichtig, den Mitarbeitern zugleich einen Weg aufzuzeigen, wie ihre Zukunft im Unternehmen aussehen kann. Und zwar so, dass sich alle Mitarbeiter lösungsorientiert einbringen können. Das bedeutet, dass Führungskräfte auch die notwendigen Ressourcen für ihre Mitarbeiter bereitstellen müssen – etwa die Möglichkeit zur Weiterbildung. So kann herrschenden Ängsten am Ende tatsächlich mit etwas Fassbarem begegnet werden. Als Vorzeigeunternehmen in puncto digitale Transformation könnte man in diesem Zusammenhang die Otto Group herausstellen. Dieser ist es gelungen, das Projekt Digitalisierung zu schultern, ohne wesentliche Teile der Belegschaft auszutauschen.

Einer der in Digitalisieren mit Hirn untersuchten Fälle ist „Wer liefert was“. Was macht wlw richtig, wo besteht noch Verbesserungspotenzial?

Als jahrelang erfolgreiches Unternehmen haben sich bei wlw naturgemäß festgefahrene Strukturen entwickelt. Diese über viele Jahre hinweg entstandenen Strukturen aufzubrechen und das Unternehmen an die sich zunehmend verändernden Bedingungen anzupassen, war eine bemerkenswerte Leistung. Auch bei wlw lag der Schlüssel zur erfolgreichen digitalen Transformation im offenen Dialog mit den Mitarbeitern. So hat die Geschäftsführung das Kunststück vollbracht, die Gefahren des Stillstands wohldosiert aufzuzeigen, ohne die Belegschaft zu paralysieren. Mittlerweile ist es schon fast in die DNA des Unternehmens übergegangen, dass beständige Veränderung ein wesentlicher Teil eines digitalen Unternehmens ist.

Gibt es unter deutschen KMU „Best Practice“-Beispiele für einen optimalen Führungsstil?

Vorweg: Ein wirkliches „Best Practice“ gibt es natürlich nicht, schließlich gleicht kein Unternehmen dem anderen. Jedes Unternehmen hat seine eigene Wertekultur und unterschiedliche Ressourcen, mit denen ein Wandel beschritten werden kann. Es kann also nicht den einen richtigen Weg geben. Vielmehr gibt es eine Vielzahl individueller Wege.

Ein mittelständisches Unternehmen, das einen guten Weg gefunden hat, ist Rieber, ein Unternehmen, das Küchentechnik herstellt. Ziele des Unternehmens sind unter anderem die Verschwendung von Lebensmitteln zu verhindern und das Entstehen von Krankheiten in Folge von Temperaturschwankungen zu vermeiden. Besonders an Rieber ist genau diese Vision, die unternehmensintern auf den Slogan „vom Acker auf den Teller“, verdichtet wird. Trotz der vergleichsweise geringen direkten Einflussmöglichkeiten des Unternehmens auf Kunden, hat Rieber es geschafft, in dieser Hinsicht etwas zu bewegen: Durch die Entwicklung innovativer Techniken, die beispielsweise Temperaturschwankungen erkennen. Bei Rieber wurde die Vision, etwas Gutes bewirken zu können, so groß aufgezogen, dass auch die Mitarbeiter sich vollständig hiermit identifizieren konnten. Durch diese Partizipation an der gemeinsamen Idee, die der eigenen Arbeit etwas Bedeutsames verleiht, war es Rieber letztlich möglich, die digitale Transformation des Unternehmens in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit voranzutreiben.

Sie haben Interviews mit etlichen Geschäftsführern geführt. Welche Erkenntnisse hinsichtlich einer erfolgreichen Mitarbeiterführung waren für Sie persönlich die erstaunlichsten?

Für mich mit am faszinierendsten war, dass sich Geschäftsführer tatsächlich vor ihre Mannschaft gestellt und klipp und klar gesagt haben: „Was die Zukunft bringt, wissen wir nicht.“ Dieser offene Umgang mit Unsicherheiten, und damit verbunden auch mit Ängsten der Mitarbeiter, fand ich in höchst positiver Hinsicht erstaunlich.

Warum eigentlich Digitalisieren mit Hirn? Inwiefern ist die Hirnforschung relevant für eine zeitgemäße Firmenkultur?

Man hätte natürlich auch einfach ein Buch über Erfolg und Scheitern des digitalen Wandels in Unternehmen schreiben können. Es reicht aber nicht zu wissen, dass andere Erfolg bzw. Misserfolg haben. Viel wichtiger ist zu verstehen, warum sich bei anderen Unternehmen ein Erfolg eingestellt hat. Genau hierbei kann die Verknüpfung von Hirnforschung und Business-Kontext helfen. Ein Beispiel: Nur aus dem Fazit der „Verbundenheit“ als wichtigem Erfolgsfaktor der Mitarbeiterführung dürften Manager des alten Schlags wenig fruchtbare Ansätze ableiten können oder wollen. Wenn man ihnen erklärt, dass das Bedürfnis nach Verbundenheit ein neurobiologisches Grundbedürfnis ist, dagegen schon.

„Mehr Mensch, weniger Technik.“ Hinsichtlich des Führungsstils eine treffende Quintessenz aus Digitalisieren mit Hirn oder unterkomplexe Vereinfachung?

Die Unternehmensberatung McKinsey hat analysiert, dass 70 Prozent aller Change-Projekte – und das umfasst auch die digitale Transformation – am Widerstand der eigenen Mitarbeiter scheitern. Angesichts dieser Erkenntnis ist es paradox, dass sich die meisten Verantwortlichen des digitalen Wandelns nicht oder nur unzureichend mit dem Thema Mensch beschäftigen und sich stattdessen einseitig auf neue Technologien konzentrieren. Eigentlich wäre der Mensch in den Fokus zu stellen. Von daher ist „mehr Mensch, weniger Technik“ durchaus eine passende Quintessenz.